Mutprobe am Herd – Ein Plädoyer für mehr Geschmack
Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt es – aber für Geschmack durchaus!
Ich spreche nicht von Mode oder Musik, sondern meine den essentiellsten aller Geschmäcker: die gustatorische Wahrnehmung, die Reizung unserer Geschmacksknospen.
Denn in einer Welt überbordender Sinnesreizungen scheinen der individuelle Geschmackssinn und das Vertrauen darin immer mehr abhanden zu kommen.
Virtuell ist Kulinarik allgegenwärtig: Foodporn-Gif-Postings, Top-Shot-Hacks, Pinterest-Boards und How-To-Apps stapeln sich in unserem digitalen Universum bis an die Decke der Speicherkapazität. Und auch die analoge Welt der Kochbücher boomt. Opulent gestaltete Rezeptsammlungen im Coffee-Table-Format gehören zum Interieur-Schick wie Sukkulenten und kupferfarbene Design-Kerzenständer skandinavischer Herkunft.
Doch was nützt das alles, wenn es am Ende nicht schmeckt?
Als Köchin und Kochbuchautorin habe ich in den vergangenen Jahren erschreckende Beobachtungen gemacht. Alles fing an mit diesem Obazda-Rezept, das ich in meinem Blog veröffentlichte. Auf Instagram postete eine Leserin ein Foto des herzhaften Aufstrichs und verlinkte mich freudig mit dem Hinweis, dass sie ihn nach meiner Anleitung zubereitet hätte. Darunter schrieb sie „Das gibt’s morgen beim Picknick – ich hoffe, es schmeckt!“.
Etwas irritiert fragte ich: „Ja hast du es denn noch gar nicht probiert?“, und sie schrieb ganz unbekümmert zurück: „Nein, aber ich habe mich ganz genau an das Rezept gehalten!“.
Ich brach innerlich in Tränen aus. Wie konnte man ein Rezept zubereiten, ohne es zu probieren? Für jemanden, der beruflich kocht, ist es das Selbstverständlichste der Welt, seine Speisen permanent abzuschmecken. Das A und O, um ein gutes Ergebnis zu erzielen.
Nach Erscheinen meines ersten Kochbuches gab es Leser, die Anmerkungen machten wie „bisschen wenig Salz“ oder „hätte ruhig etwas schärfer sein dürfen“ – obwohl ich alle Rezepte mit Hinweisen wie „mit Salz und Pfeffer abschmecken“ oder „eine halbe bis eine Chilischote je nach gewünschtem Schärfegrad“ versehen hatte. Es schien, als ob diese Anleitungen schon zu viel Eigeninitiative verlangen würden. Als ich dann begann, Kochkurse zu geben, konnte ich das Phänomen live erleben. Wie ein Gummiball zwischen meinen Eleven umher springend, fragte ich stichprobenartig „Hast du das schon gesalzen/abgeschmeckt?“ – und bekam in 90 Prozent der Fälle die Antwort: „Nein, das habe ich vergessen/ mich nicht getraut!“
Vergessen kann jeder mal was.
Aber sich nicht trauen?
Das bedeutet: ANGST.
Die Angst vor dem Salzstreuer.
Die Scheu vor der Muskatreibe.
Die Unsicherheit an der Zitronenpresse.
Das alles kannte ich nicht. Schon als Kleinkind durfte ich meine Hände in Hefeteig stecken und Käse über die Pizza krümeln. Inzwischen habe ich begriffen, dass eine solche Vertrautheit mit dem Akt des Kochens heute in deutschen Küchen die Ausnahme ist.
Viele Menschen würden gerne kochen, haben aber Berührungsängste, weil es ihnen nie jemand beigebracht hat. Angst lässt sich überwinden, doch „perfekte“ Rezepte helfen dabei nur bedingt. Wer kochen will, muss sich rein schmeißen. Trial and Error. Auch mal in Kauf nehmen, dass etwas schief geht. Rezepte sind eine Art Geländer, an dem man sich entlang tastet. Aber die Kür ist die persönliche Note, die jeder von uns einem Gericht geben kann.
Legen Sie also los, trauen Sie sich, greifen Sie tatkräftig zu Salz- und Pfeffermühle. Beim nächsten Mal verrate ich ihnen dann meine persönlichen Tipps fürs richtiges Würzen.
Aber nur, wenn Sie davor schon mal probiert haben!
(Dieser Text erschien zuerst in Heft 4/2017 FOODIE/ Der Feinschmecker)