Warum wir das Schweigen brechen müssen

TRIGGERWARNUNG:

Dieser Artikel behandelt Themen wie sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung, Mobbing und psychische Gewalt.

Zum Thema hört auch meine Podcast-Folge mit dem Transkript meines Talks #ustoo, den ich 2018 auf der re:publica Konferenz gehalten habe.

Ich wünschte wir lebten in einer Welt in der ich einfach nur über gutes Essen, Gänseblümchen und Sonnenschein schreiben könnte. Doch leider sieht die Realität anders aus.

Wie manche von euch vielleicht bereits wissen bin auch ich Opfer von sexualisierter Gewalt geworden und habe mich nach Jahren des Schweigens und der Verdrängung 2015 dazu entschieden meine Geschichte auf Edition F zu erzählen.

Immer noch würde ich sagen, dass der Tag der Veröffentlichung dieses Artikels einer der Schwierigsten meines Lebens war. Ich war zutiefst erfüllt mit Angst und Scham und habe diese Gefühle seitdem immer wieder hinterfragt.

Warum bin ich es, das Opfer, das sich schämt die Wahrheit zu erzählen?

Meine erste Reaktion nach der Veröffentlichung war nicht mehr über das Thema sprechen zu wollen.

Als der Fall Gina-Lisa durch die Medien ging, hatte ich einige Anfragen von TV- und Print-Medien, Redakteure hatten meinen Artikel im Netz gefunden.

Ich hatte erneut Angst auf die Opferrolle reduziert zu werden.

„Das ist doch diese vegane Köchin, die vergewaltigt wurde…“

Erst heute und im Zuge der Ereignisse der letzten Monate habe ich verstanden, dass dieses Ereignis Teil meiner Geschichte ist und ich vor allem eines tun muss:

Mich aus der Opferrolle befreien.

Mit Scham werden (männliche und weibliche) Opfer sexualisierter Gewalt instrumentalisiert zu schweigen.

Ich schäme mich nicht mehr. Ich bin wütend.

Wütend über die Tatsache, dass in unserer Gesellschaft der Täterschutz immer noch stärker wiegt als der Opferschutz.

Dass Frauen zu oft unterstellt wird, sie würden sich mit dem öffentlich Machen erlebter sexualisierter Gewalt profilieren wollen.

Ich kann aus eigener Erfahrung sagen:

Es gibt nichts Beschisseneres und Unangenehmeres als darüber zu reden.

Das macht keinen Spaß. Das tut weh. Jedes einzelne Mal.

Es mag solche Fälle geben aber wie es Teresa Bücker, die Chefredakteurin von Edition F so schön auf den Punkt gebracht hat:

„Ich verstehe wirklich nicht, warum die Angst vor Falschbeschuldigungen so hoch ist. Kaum ein Mann wird das jemals erleben – arbeitet mit an den Lösungen, um sexualisierte Gewalt zu beenden, aber Falschbeschuldigungen hochzustilisieren, ist der falsche Weg. Im Gegenteil: Wer sexualisierte Gewalt zur Anzeige bringt, hat viel zu verlieren. Daher kommt die große Mehrheit aller Übergriffe nie zur Anzeige. Eine Falschbeschuldigung ist wohl der Weg mit den wenigsten Erfolgsaussichten für eine Frau, etwas im Leben zu erreichen. Es ist ein absoluter Mythos, die Falschbeschuldigung sei eine beliebte Rache-Strategie von Frauen – oder sie wollen dadurch gar berühmt werden. Das Risiko für einen Mann selbst Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden, ist um ein Vielfaches höher, als irgendwann durch eine Frau falsch der Vergewaltigung bezichtigt zu werden.“ (Quelle: Twitter)

Im Zuge der #metoo Debatte vor einigen Monaten und dem Bekanntwerden prominenter Täter, die ihre Machtpositionen schamlos ausgenutzt haben, wird in der öffentlichen Diskussion immer wieder alles daran gesetzt, diese Fälle zu Einzelfällen zu stilisieren, die Schuld bei den Opfern zu suchen (Sie hätte doch Nein sagen können!) und davor gewarnt dass das Aufdecken sexueller Übergriffe  „der Sache den Spass nehmen“ würde.

Seriously? Ich habe seit 20 Jahren Sex und ich kann nur sagen:

Consent is sexy!

Diesen Spruch sah ich auf einem Transparent beim Women’s March in New York letzte Woche und zusammen mit einem weiteren ist er mir am Stärksten in Erinnerung geblieben:

Believe Women.

Glaubt den Frauen.

Verdammt noch mal.

Nach der Veröffentlichung meines Artikels habe ich unzählige Nachrichten von selbst betroffenen Frauen erhalten, die mir ihre Geschichten erzählt haben.

Ich habe mich entschieden einige dieser Geschichten anonym zu teilen, denn sie erzählen das wahre Drama, das was hinter den Vorhängen passiert.

In Beziehungen, in Familien, auf Dates.

Das ist die Realität. Die Dunkelziffer.

K :

Tut mir sehr leid was dir passiert ist.

Danke, dass du den Mut hast darüber zu schreiben. Ich habe ihn nicht.

Mir ist das in einer Beziehung widerfahren. Ich hab auch gebraucht bis ich für mich eingestanden bin. Es hat sich so, so ekelhaft und schmutzig und falsch angefühlt, und trotzdem habe ich ihn (mehrmals!) entschuldigt.

Unglaublich, ich hätte selbst nicht vermutet dass ich so reagiere.

Einer anderen Frau würde ich mit Selbstverständlichkeit und Vehemenz ganz anders zusprechen als mir selbst.

Eine andere Frau würde ich bekräftigen dass es falsch ist was er getan hat, dass sie keine Schuld hat.

Aber als es mich betraf kamen die Zweifel – Gewalt in dem Sinne hat er ja nicht angewendet, vielleicht dachte er es sei ok etc.

Nichts daran war ok.
Ich wünsche dir viel Kraft.
Und danke nochmal für deinen Mut

F:

Danke für Deinen offenen Text!

Es tut gut – es zu lesen – zu wissen – man ist nicht allein!

Bei mir ist es nun knapp 12 Jahre her…

Ich hab damals sogar den Mut auf mich genommen, bin zur Polizei und wurde dann sehr nett bei der Kripo empfangen und behandelt.

Es ging bis zum Anwalt usw.

Dann hab ich einen Rückzieher gemacht.

Warum? Weil der Mann, den ich über alles liebte mich deshalb verlassen hat.

„Wie kann ich jemals wieder mit Dir schlafen?“ und „was mach ich nur“ waren seine Sätze – die sich in mein Hirn brannten.

Freunde (?!) haben sich distanziert….

Ich war allein und der Schmerz der Trennung und des Verlustes und der Glaube ans Gute im Menschen schwand und ich konnte nicht mehr…

So brach ich alles ab und zog in eine andere Stadt.
Alles war neu und ich übte mich im Verdrängen.

3 Jahre später verfiel ich in eine tiefe Depression, konnte das Haus nicht mehr verlassen, wollte sterben. Mein Körper konnte nicht mehr verdrängen.
Es gab gute Menschen die mir halfen.
Das Passierte habe ich bis heute nicht verarbeitet.

Der Schmerz, Verlust der Liebe, das verlassen werden von Freunden(?!) und die Tat.

Ja, ich sollte es, denn gerade beginnt wieder eine dunkle Wolke mich einzunehmen…

Du machst mir Mut! Wegen Deiner Worte!

Weil du es so schreibst und sagst wie es ist!

Ich danke dir dafür! Von Herzen!

C:

Toller Beitrag!! Das ist so unfassbar stark von dir!

Ich erkenne mich in deinem Text zu 100% wieder!

Genauso ging es mir; dieselben Fragen habe ich mir gestellt..

Ewig geschwiegen! Das Wort an sich kann ich bis heute nicht wirklich aussprechen.

Die Tat hat mein Leben grundsätzlich verändert.

Bis heute leide ich unter den Folgen.

Ich finde das so so Klasse von dir!!

Viel zu viele Opfer schweigen..

N:

Liebe Sophia, vielen Dank für Deinen Text, der mich sehr aufgewühlt hat.

Mir ist „es“ mit 17 auf einer Party passiert. (…) bis heute weiss ich nicht was genau passiert ist, aber ich war ausgezogen. Am nächsten Tag hat er über mich gelacht und gesagt ich würde stinken und Schlimmeres.

Danach wurde ich magersüchtig und entwickelte einen Waschzwang, ich dachte ich sei der widerlichste Mensch der Welt.

Einige Jahre später jobbte ich während des Studiums in der Gastronomie wo mich ein Arbeitskollege bedrängt hat. Es war für ihn eine Jagd, er lauerte mir auf oder verfolgte mich, z.B. ins Getränkelager oder den Aufzug. Er fasste mich überall an, steckte mir die Zunge in den Mund.

Ich sagte nein, er hielt es wohl für Koketterie. Nach einigen Wochen ging ich zu meinem Chef, er sagte nur: „Ach komm, Dir hat es doch auch Spass gemacht.“

Als ich mich aus Angst vor der Arbeit morgens übergeben musste, habe ich mir ein Herz gefasst und meinem Kollegen gesagt ich wolle das nicht und er solle mich in Ruhe lassen. Er drohte mir mit seinen Brüdern die auch alle zu mir kämen wenn ich was sagen würde. Er und einer seiner besten Freunde (und unser Arbeitskollege) haben von dem Tag an Geld aus meiner Kasse genommen und eingesteckt – so musste ich betrügen und weniger eintippen als ich eingenommen habe damit es ausgeglichen wird.

Sie haben auch Geld in meine Tasche gesteckt. ich habe wegen „Lernstress“ gekündigt.

Bis heute frage ich mich ob ich Schuld habe und sie irgendwie ermutigt habe, ob ich eine Art Mensch bin, dem das passieren muss.

Danke für Deine offenen Worte.

A.:

Sophia, danke für Deinen Mut.

Vor 20 Jahren erging es mir ähnlich…ich habe sehr viel länger gebraucht es zu formulieren, auszusprechen…zu erkennen, das es nicht Recht ist. Erste Anlaufstelle war LARA eine Krisenstelle in Berlin.

Ich dachte ich bin dort sicher, weit gefehlt, mir wurde von der Therapeutin nicht geglaubt, ich lief heulend aus dem Zimmer. Ich schreibe es Dir, weil ich immer noch darüber verletzt bin.

Mittlerweile lebe ich mit einem wunderbaren Mann, was mir geholfen hat: Darüber zu sprechen.

ES auszusprechen und Artikel von Frauen wie Dir, danke und alles Herzliche für Dich!

M.:

Hallo Sophia, 

Bei mir passierte es im Auto, auf einer dunklen Tankstelle, nach der Disko. Ich war 16 und Jungfrau.

Mein erstes Mal hatte ich mir anders vorgestellt.

Mittlerweile bin ich 49 und habe es verarbeitet. Hat aber viele viele Jahre gedauert. Und ganz tief drinnen traue ich den Typen noch immer nicht…. Danke, dass du so mutig warst! 

P.s.: In Amerika gibts sogar ein Wort dafür: „date rape“

O.:

Hallo Sophia, mir ist genau das Gleiche passiert.

Danke, dass Du öffentlich darüber schreibst. Ich habe diesen Mut selbst nicht, aber es tut gut, Deine Geschichte zu lesen und zu wissen, dass ich damit nicht alleine bin.

Und dass es nicht meine Schuld ist. 

Headerfoto: Natalie Mayroth

Wenn ihr Hilfe braucht oder Ähnliches erlebt habt, schreibt mir eine Email, ich leite euch gerne weiter.

Außerdem empfehle ich für alle, die sich stark genug und nicht leicht getriggert fühlen das Buch „Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens“ von Mithu M. Sanyal. Es beleuchtet historische Entwicklungen, psychologische Vorstellungen von männlicher und weiblicher Sexualität die bis heute in unserer Gesellschaft gelten, nimmt das aktuelle Strafrecht unter die Lupe und hilft. Zum Beispiel genauer die Ursachen von victimblaming und -shaming zu verstehen und sich aus der Opferrolle zu lösen.