Essen für die Tonne: Mein Talk vom taz lab Kongress 2019

Am 06.04.2019 war ich als Rednerin auf dem taz lab Kongress 2019 zum Thema Lebensmittelverschwendung in Europa geladen.

Hier findet ihr das Transkript meines Talks zum Nachlesen:

Guten Morgen!

Mein Name ist Sophia Hoffmann, ich bin Köchin, Kochbuchautorin und Aktivistin aus Berlin.

Ich möchte heute über mein Lieblingsthema sprechen, nämlich Lebensmittelverschwendung.

Das wird sie jetzt vielleicht stutzig machen, denn das ist ja wahrlich kein schönes Thema.

Mir ist dieses Thema so wichtig, dass ich ein ziemlich dickes Buch darüber geschrieben habe.

Laut einer aktuellen Studie werden in Deutschland jährlich 18 Mio. Tonnen Nahrungsmittel entlang der Erzeugungskette verschwendet.

40% davon in Privathaushalten.

Das ist ein Schätzwert von 235 € pro Person.

Finden Sie dass das nach viel klingt?

Ich finde das kommt so ein bisschen auf das Einkommen an, es gibt schließlich viele Dinge für die die Meisten von uns schnell bereit sind diese Summe auszugeben:

  • Eine Flugreise oder einen Wochenendtrip
  • Ein Paar Schuhe
  • Unterhaltungselektronik

usw usw…

Ich finde es ehrlich gesagt aufgrund der Menge der weggeworfenen Lebensmittel relativ wenig Geld.

Nach eingehender Beschäftigung mit dem Thema muss ich sagen:

Essen ist viel zu billig.

Die Tatsache, dass wir Millionen Tonnen davon jährlich wegschmeißen, ist ein Luxusproblem.

Wenn Essen teurer wäre, könnten wir uns das nicht leisten.

Wir müssen den Stellenwert von Lebensmitteln überdenken und zwar mit sofortiger Wirkung.

In Deutschland gilt das Motto: Geiz ist geil.

Mein Lieblingsbeispiel zur Verdeutlichung:

Die Deutschen geben mehr Geld für Motoröl aus als für hochwertiges
Speiseöl.

Sind sie überrascht? Ich nicht.

Wir sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, die ein stark von Werbeversprechen und öffentlicher Meinung geprägtes Bild unseres Essens zeichnet.

Großkonzerne zahlen jedes Jahr Millionen Euro um ihre Botschaften über TV, Print und Social Media auf unsere Teller zu kriegen.

Botschaften eben wie:

  • Essen muss möglichst billig sein, blöd ist der, der mehr dafür zahlt!
  • Selbst kochen ist Zeitverschwendung und super schwierig. Fertig- oder Halbfertiggerichte schmecken toll und sind im Grunde wie selbst kochen
  • alle tierischen Produkte kommen aus idyllischen Kleinst-Bauer-Betrieben. Milch von der Alm, Leberwurst aus einer Mühle und Milchschokolade aus einer lila Kuh
  • Selbst in anderen Ländern wie Italien, Frankreich oder Irland essen die Einheimischen lieber eine seltsame Tiefkühl- oder Light-Version ihrer traditionsreichen Küchenklassiker
  • Süßigkeiten sind gesund für unsere Kinder und fördert deren Wachstum weil gepufftes Getreide darin ist, Milchpulver oder Fruchtaroma

Das Problem: Viele Menschen haben diese Botschaften verinnerlicht und selbst wenn sie nicht zu 100 % an die Alm-Idylle glauben, hilft diese schon sehr die Realität der Tierindustrie zu verdrängen.
Oder zu glauben, dass Bio-Lebensmittel unverschämt teuer sind.
Und Brötchen aus dem Discouter besonders frisch.

Es ist halt so schön einfach.

Und wenn dann jemand das Gegenteil behauptet, gibt es sicherlich einen von der Lebensmittelindustrie bezahlten Experten, der dagegen hält und am Ende denkt man vielleicht:

„Jeder behauptet doch eh etwas anderes, wem soll ich denn noch glauben?“

Darauf antworte ich: „Deinem Bauchgefühl.“

Ich glaube fest daran, dass man Lebensmittelwertschätzung fühlen und lernen kann.

Und ich glaube daran, dass das der Schlüssel ist besser damit umgehen zu lernen.

Doch warum ist dieses Thema so unglaublich wichtig?

Weil es enorme ökologische Folgekosten nach sich zieht.

Weil Tiere, Umwelt und Menschen in der lebensmittelerzeugenden Industrie erbarmungslos ausgebeutet werden. Und das nicht nur europa-, sondern weltweit.

Ich bin mir dessen nicht nur bewusst, sondern fordere auch ein, dass die politische Führung unseres Lades und eines vereinigten Europas viel drastischere Gesetzgebungen und Bestimmungen auf den Weg bringen muss und es völlig verkehrt ist die Alleinverantwortung auf den Schultern der Verbraucher abzuladen.

In allen Ländern mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem sind Politik und Industrie eng verstrickt, Lobbyismus an der Tagesordnung.

Ich habe gerade erst diese Woche für ein Arbeitsprojekt den Bundespreis „Zu gut für die Tonne“ von der Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner verliehen bekommen, worüber ich mich zwar freue, aber gleichzeitig auch zur Kenntnis nehmen musste, dass diese Veranstaltung bis zum Himmel nach Greenwashing-PR stinkt und Frau Klöckner es sich nicht nehmen ließ auf der Bühne noch mal zu betonen, dass es während ihrer Amtszeit KEIN Gesetz geben wird, das es dem Handel – wie in Frankreich oder Tschechien – verbietet Lebensmittel wegzuschmeißen. Ihre Begründung war ernsthaft, dass die Tafeln mit dieser Menge plötzlich anfallenden Essens völlig überfordert wären.

Keine Satire – das ist Regierungspolitik.

Heute sind Lebensmittel so billig wie nie zuvor.

Diese Massenerträge können Landwirte nur erwirtschaften wenn sie viel Chemie einsetzen.

Müssten die Erzeuger die Kosten für die damit einhergehenden Umweltschäden zahlen, würden die Lebensmittelpreise erheblich steigen.

Alleine durch die Verschmutzung von Grundwasser entstehen momentan europaweit Schäden von bis zu 320 Milliarden Euro.

Wissenschaftler der Uni Augsburg haben ausgerechnet wie es sich auf die Preise der Lebensmittel auswirken würde, wenn man für Umweltschäden an der Supermarktkasse zahlen würde:

Gemüse würde 6% mehr kosten, Milch wäre 1/3, Fleisch ganze 43% Prozent teurer.

Somit wären konventionelle und Bio-Produkte in etwa gleich teuer.

Momentan werde Landwirte aufgrund des irrsinniges Drucks des Marktes dazu getrieben so billig und viel wie möglich zu produzieren ohne die Folgeschäden für die Zukunft zu berücksichtigen.

Ein System, das über kurz oder lang kollabieren wird, schon heute sind die Böden übersättigt und die Umweltbelastungen mehr als bedenklich.

Der Ausweg ist eine konsequente Agrarwende, bei der durch nachhaltige, alternative Anbauformen wie Permakultur der Chemieeinsatz drastisch reduziert würde, logischerweise mit der Konsequenz, dass die Preise steigen würden.

Das ist eigentlich unumgänglich, deshalb müssen wir lernen weniger zu verschwenden…

Meine Botschaft lautet:
Wertschätzung beginnt mit Wissen.

Je besser wir Bedeutung und Herkunft unsere Nahrung verstehen, desto weniger leichtfertig lassen wir sie verderben.

An dieser Stelle möchte ich Vivienne Westwood zitieren, sie sprach über Mode, aber das Zitat lässt sich problemlos auf Lebensmittel übertragen:

„Buy less, choose well, make it last!“

Ich werde Ihnen am Ende noch ein paar knackige Beispiele und kulinarische Kostproben servieren, die ich mitgebracht habe, natürlich nur, damit Sie mir auch bis zum Ende zuhören…

Doch zurück zu Europa.

Da gibt es Länder, die uns in der Nachhaltigkeitspolitik einige Schritte voraus sind und solche in denen die Menschen seit jeher bereit sind für qualitativ hochwertige Lebensmittel mehr zu bezahlen.

Doch trotz gewisser länderspezifischer Unterschiede ist Lebensmittelverschwendung ein europaweites Problem, das von der europäischen Kommission 2011 als „einer der wichtigsten Bereiche im Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa“ hervorgehoben wurde.

Bei den Zahlen im Bezug auf Europa handelt es sich um Schätzungen.

Die Europäische Kommission schätzt, dass allein in der EU jährlich 90 Millionen Tonnen Lebensmittel bzw. 180 kg pro Person weggeworfen werden.

Die sich aus dieser Verschwendung ergebenden Umweltbelastungen beschränken sich nicht auf die Nutzung von Ackerland und Wasser sondern machen in der EU 17% unserer direkten Treibhausgasemissionen und 28 % des Ressourcenverbrauchs aus.

Es wird geschätzt, dass in den reichsten Ländern zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Lebensmittel weltweit weggeworfen werden.

Und wie wir alle wissen, liegen viele dieser Länder in Europa.
Der Fahrplan der Europäischen Kommission fordert „eine gemeinsame Anstrengung von Landwirten, der Nahrungsmittelindustrie, Einzelhändlern sowie den Verbrauchern in Form von ressourcenschonenden Erzeugungsmethoden und der Auswahl nachhaltiger Lebensmittel.“ mit einem hehren Ziel:

Die Entsorgung von genusstauglichen Lebensmittelabfällen in der EU soll bis 2020 halbiert werden.

Und da auf die Politik allzu wenig Verlass ist, möchte ich heute an die Macht der kleinen Schritte appelieren und motivieren einfach selbst damit anzufangen.

Für mich ist Nachhaltigkeit durch eine starke familiäre Sozialisierung so etwas wie eine Brille, die ich gar nicht absetzen kann.
Ich bin so verdammt nachhaltig aufgewachsen, dass mein Radarblick immer offene Fenster bei aufgedrehter Heizung, Lichtquellen in unbenutzten Räumen, auf dem Teller liegen gebliebene Essensreste und tropfende Wasserhähne scannt, egal wo ich mich grade befinde.

Ich habe als Kind gelernt, dass Wasser, Strom und Essen wertvolle Ressourcen sind, die man nicht verschwenden darf.
Und Atomstrom böse, spätestens nach Tschernobyl war das klar.

Wenn ich einen angeschlagenen Apfel sehe, denke ich nicht über die braune Stelle nach, sondern über die 80 % intaktes Fruchtfleisch und was ich damit noch alles anstellen kann. Ich sehe keine Mängel, sondern Möglichkeiten. Ich finde Lösungen. Müdes Gemüse erzeugt bei mir keinen Ekel, sondern eher eine Art Mitgefühl es in kaltem Wasser aufzupeppen und geschmackvoll zu verarbeiten.

Aufgrund des herrschenden Überflusses an frischem Obst und Gemüse betreiben wir sogenanntes Cherry picking (= deutsch Rosinen picken) und wollen nur die schönsten, unbeschädigten, normiertesten Früchte auf dem Teller. Was wir dabei aber verdrängen ist, dass die Krummen, Angeschlagenen trotzdem existieren und oft schon direkt vom Feld im Müll landen. Dabei sind das oft die Originellsten!

Wir sollten wieder lernen die von industrieller Werbemacht anerzogene Skepsis gegenüber nicht normiertem, nicht tagesfrischem Essen in eine Unschuldsvermutung umzukehren und auf unser Bauchgefühl zu hören.

Essen wegschmeißen fühlt sich nicht gut an.

Und auch wenn die in meiner Kindheit viel zitierten „Kinder in Afrika“ nicht von meinen Essensresten direkt satt werden, hat unser Konsumverhalten eine enorme Auswirkung auf die Lebensbedingungen von Menschen in ärmeren Ländern, deren Böden allzu oft für unsere Märkte ausgebeutet werden.

Fast alle von uns konsumieren täglich Bananen,, Kaffee und Schokolade und in all diesen Industrien gehören Kinderarbeit und moderne Sklaverei im Nicht-Fairtrade-Bereich zur Tagesordnung.

Wussten Sie, dass Zwiebeln für viele Menschen in Indien die wichtigste Vitaminquelle darstellen, weil es oft das einzige Gemüse ist, dass sie sich leisten können und dass es zu politischen Unruhen kommt wenn die Zwiebelpreise steigen?

Wie oft haben Sie schon eine Zwiebel weggeschmissen weil sie angefangen hat zu treiben?

Absolute Verschwendung, denn die Triebe enthalten besonders viel Folsäure, Eisen und Zink. Der Keim ist sogar noch gesünder als die äußeren Schichten und kann ohne Bedenken mit gegessen werden.

Brot – eines der kulturgeschichtlich bedeutendsten Lebensmittel (mit dem Getreideanbau wurden die Menschen sesshaft) ist heute verkommen zu einem Wegwerfprodukt.

In Deutschland landet jede fünfte Backware im Müll, das entspricht einer Anbaufläche größer als die Insel Mallorca.

Das vom Discounter suggerierte „frisch gebackene Brot bis zum Abend“ basiert auf Überproduktion von Billigware, bei der ein nachhaltig wirtschaftender Bäcker niemals mithalten kann.

Nur durch aktives Konsumentenverhalten können wir das ändern.

Getreide bildet bis heute die Lebensgrundlage für einen Großteil der Weltbevölkerung.

48% der gesamten Nahrungsenergie und 43% der Gesamtproteinzufuhr werden aus Getreide bezogen.

Wussten Sie dass sich in den letzten 150 Jahren der Konsum von Hülsenfrüchten pro Kopf in Deutschland von 20,7 kg/ Jahr auf verschwindende 0,7 kg reduziert hat.

Diese Entwicklung ist direkt einhergehend mit der Zunahme des Fleischkonsums.

Obwohl alle Gesundheitsorganisationen den regelmäßigen Verzehr von Hülsenfrüchten empfehlen, sind diese von den Teller der breiten Bevölkerung hierzulande fast vollständig verschwunden.

Viele Menschen meiden Hülsenfrüchte, da sie angeblich stark blähen. Mittlerweile weiß man, dass das reine Gewohnheitssache ist. Bei kontinuierlichem Verzehr gewöhnt sich der Körper innerhalb von Wochen an die ballaststoffreiche Nahrung. Aus mehreren Studien ging hervor, dass die erwarteten Verdauungsbeschwerden bei vielen Probanden überhaupt nie eintraten.

Wussten Sie, dass Brautpaare früher mit Erbsen beworfen wurden?

Und dass Gurken geraspelt besser verträglich sind als in Scheiben geschnitten?

Dass es weltweit über 5000 Kartoffelsorten gibt und etwa 200 davon werden hierzulande angebaut werden? Die Völker der Inka bauten sie schon vor 8000 Jahren an und verehrten die Kartoffelgöttin Axomama. Weil die Kartoffel für die Inkas ein Symbol der weiblichen Fruchtbarkeit war, durften nur Frauen die Kartoffelpflanzen in die Erde setzen.

Dass Kartoffeln auch die „Zitrone des Nordens“ genannt werden, denn sogar gekochte Kartoffeln haben einen dreimal so hohen Vitamin C Gehalt wie Eisbergsalat?

Warum ich Ihnen das alles erzähle?

Weil ich es unheimlich spannend findeund finde wir sollten mehr wissen über das, was wir uns täglich einverleiben. Weil wir damit nicht nur anderen Menschen und Tieren, der Umwelt sondern auch uns selbst einen großen Gefallen tun!